Emmanuel Macron hat ein berühmtes Vorbild – hoffentlich
von Reinhard Göweil
Frankreich hat 2022 für sechs Monate die rotierende EU-Präsidentschaft übernommen, und deren Präsident Emmanuel Macron wird wohl als erster seit langer Zeit als starker EU-Präsident auftreten. Dem neuen deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz steht er inhaltlich – was Europa und Wirtschaft betrifft – deutlich näher als Angela Merkel. Die „deutsch-französische-Achse“ wird wieder an Gewicht gewinnen, und nicht nur die allein. Im Rat der Europäischen Union gilt in vielen Bereichen mittlerweile ein Mehrheitsprinzip, gewichtet nach Bevölkerungszahl. Nach dem Brexit erfüllen Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen die erforderliche 65-Prozent-Mehrheit der zugeteilten Stimmen. Macron verfolgt eine strikt europäische Linie, wie die neuen Ampel-Regierung in Deutschland auch. Mario Draghi, der Italien stabilisiert hat, ebenso. Es ist ein Fenster, zu handeln.
Gleichzeitig steht Emmanuel Macron im April 2022 vor einer nationalen Präsidentschaftswahl. Ein Frankreich, das Europa stolz anführt, würde seine Wiederwahl erleichtern. Aus Brüssel ist kein Widerstand zu erwarten. Sowohl der nominelle Ratspräsident Charles Michel, ein Belgier, als auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrel, ein Spanier, sind politische Leichtgewichte. Und die (deutsche) EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war sogar eine „Erfindung“ Macrons. Die konservative Politikerin hat mittlerweile das Problem, dass ihre politische Heimat, die Europäische Volkspartei, in keinem der fünf größten EU-Länder mehr den Regierungschef stellt. Das reduziert ihren Handlungs-Spielraum, wobei unklar ist, ob sie ihn überhaupt nutzen will.
Macron dagegen will offensichtlich aus dem politisch verhüttelten Europa einen „world-player“ machen, mit gutem Grund. China demonstriert seine wirtschaftliche Macht mittlerweile unverhohlen und wird militärisch immer aggressiver. Russland nutzt seine Energie-Rohstoffe und das Faktum als Atom-Macht ebenso offensiv, wenngleich wirtschaftlich viel schwächer als China. Die USA haben als „Welt-Polizist“ ausgedient, das ist in Washington DC. mittlerweile allen klar, egal ob Demokrat oder Republikaner. Zudem befindet sich das amerikanische System selbst in einer tiefen innenpolitischen Krise.
Europa dagegen punktete bisher bloß mit seiner – global betrachtet – ungeheuren Kaufkraft. Die Hälfte der 60 reichsten Länder der Welt befindet sich in Europa, inklusive der EU-Regeln folgenden Länder Schweiz und Norwegen und dem mit sich selbst hadernden Großbritannien.
Was fehlt ist eine schlagkräftige militärische Entsprechung, obwohl die EU-Länder insgesamt 230 Milliarden Euro jährlich dafür ausgeben. Zum Vergleich: Die Rüstungsausgaben Russlands liegen bei knapp 70 Milliarden Euro jährlich. In Europa sind diese Ausgaben aber national (des-)organisiert, dazu kommt, dass einige europäische Länder wie auch Österreich nicht der NATO angehören.
Macrons Ziel lautet nun: Aufbau einer schlagkräftigen europäischen Armee inklusive der dazugehörigen Organisation. Damit verabschiedet sich Frankreich – historisch betrachtet – endgültig von seinem „Idol“ Charles de Gaulles. Der verhinderte Mitte der 1950er Jahre die Gründung der „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“, weil er sich seinerzeit im Gegenzug russische Unterstützung im damals tobenden Indochina-Krieg erhoffte, einer französischen Kolonie. Es war ein herber Rückschlag im europäischen Einigungsprozess, der so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg viel leichter gewesen wäre als heute. Im heutigen Vietnam fahren zwar noch viele französische Autos, aber politisch war De Gaulles‘ Widerstand gegen ein militärisch geeintes Europa ein Desaster. Emmanuel Macron scheint diese Scharte auswetzen zu wollen, nach dem Motto: „Besser spät als niemals.“
Das würde – etwa in der Ukraine – die Karten neu mischen. Russland wehrt sich gegen einen NATO-Beitritt der Ukraine, weil die USA dort das Sagen haben. Gegen ein europäisches Verteidigungsbündnis müsste der Kreml erst eine neue Argumentation finden, da dieses die Sicherheit Russlands wohl nicht annähernd bedrohen könnte. Zudem könnte so ein europäisches Bündnis durchaus Russland zur partiellen Mitarbeit einladen, etwa bei der Terrorismus-Bekämpfung.
Das ist alles ferne Zukunft, klingt utopisch.
Doch Emmanuel Macron scheint entschlossen, den ersten Schritt zu einer spürbaren Vertiefung und globalen Stärkung der Europäischen Union zu gehen. Das erklärt auch seine harte Haltung gegen Großbritannien nach dem Brexit. Es geht nur vordergründig um Fischereirechte und um das Nordirland-Abkommen. Während die Briten nun erkennen, dass der Austritt aus der EU mit viel Mühsal verbunden ist, beharrt Macron auf den getroffenen Vertrags-Vereinbarungen mit der britischen Regierung.
Ebenso deutlich geht Macron bei der Energiewende vor. Bis 2050 wird nach vorliegenden Schätzungen der Stromverbrauch um 20 Prozent steigen. Ohne Gas- und Kernkraftwerke, die zum Teil aus Altersgründen bis dahin ersetzt werden müssen, ist dieser Verbrauch nicht darstellbar. Energieeffizienz-Programme in der Industrie können zwar ein bisschen was wettmachen, aber erneuerbare Energieträger können angesichts des Wegfalls der Kohle diese ungeheure Menge nicht stemmen. Dies mit Kosten, die Europa im Wettbewerb lähmen und private Haushalte über Gebühr belasten würden. Dass Frankreich (mit stillschweigendem Wohlwollen Deutschlands und Italiens) die CO2-neutrale Kernenergie in die EU-Taxonomie-Verordnung gebracht hat, mag unsympathisch sein, anders ist der Energiehunger Europas aber nicht zu stillen. Stromausfälle, sogenannte blackouts, sind das letzte, das Europa noch braucht.
Macron hat auch hier bewiesen, dass er die Richtung in Europa vorgibt. So will er auch eine CO2-Grenzabgabe für Waren auf den Weg bringen, die aus Ländern kommen, in denen der Klimawandel nicht ganz so ernst genommen wird. Aus Sicht eines fairen Wettbewerbs ein logischer Vorschlag, aber ob der die Regeln des freien Welthandels erfüllen kann, ist noch offen.
Immerhin, Macron hat es auf der Liste. Eine vertiefte Beziehung zu Afrika und eine Neugestaltung des Schengen-Raums (in dem es keine Grenzkontrollen geben sollte), stehen ebenfalls auf dem Speisezettel der französischen Ratspräsidentschaft.
Das hat einerseits mit einer stärkeren wirtschaftlichen Kooperation zu tun und andererseits mit einer Steuerung der Migrationsströme aus afrikanischen Ländern.
Macron geht also große Brocken an, nicht nur wegen seiner eventuellen Wiederwahl im April 2022, sondern auch im Hinblick auf die nächste Europawahl 2024. Im zweiten Halbjahr 2024 übernimmt Ungarn die Präsidentschaft, im ersten Halbjahr 2025 Polen. Beide Länder stehen bei der Vertiefung der EU auf der Bremse, auch deren rechtstaatliche Instrumente bieten einigen Anlass zur Sorge.
Frankreich will offenbar mit seinem Programm so viele Pflöcke einschlagen, dass danach nicht mehr viel passieren kann.
Emmanuel Macron ist ein strategischer Denker, der weiß, dass Europa nur dann reüssiert, wenn es einen adäquaten Platz in der Geopolitik einnimmt. Genau das braucht die EU im Moment.
Besonders umstritten ist sicher seine grundsätzliche Idee, Teile der bisher nationalen Staatsverschuldung zu „vergemeinschaften“. Die EU soll mit ihrer beträchtliche Bonität – ähnlich den USA – wesentliche Teile der bisher nationalen Kreditaufnahme übernehmen. Das geschieht teilweise schon, etwa durch Garantien für die EIB, und durch den nunmehrigen Corona-Aufbaufonds mit Schwerpunkten auf Klimaschutz und Digitalisierung. Der „reiche“ Norden der EU meint damit die Haftung für Schulden des „armen“ Südens übernehmen zu müssen, und aus nationaler Sicht ist das nicht falsch. Blöd nur, dass die nationale Sicht wie die Alpen den Blick aufs Mittelmeer verstellt. Europas Wohlstand zu halten ist eine gemeinsame Anstrengung. Wenn in Bayern Waren für den Export produziert werden, so braucht es auch am Peleponnes eine Kundschaft dafür. Einen Teil der Staatsschulden auf EU-Ebene zu hieven ist ohne Zweifel ein politischer Kraftakt mit sehr lauten und verzögernden Begleitgeräuschen. Es spricht aber viel dafür, abseits der militärischen Komponente. Weder das Klima noch Viren scheren sich um nationale Grenzen. Nur Kapital darf frei fließen, und das ist wohl zu wenig.
Einen wunden Punkt gibt es freilich: Macron stellt die Vertiefung der EU vor ihre Erweiterung. Für die Länder am Balkan sind dies keine guten Nachrichten, vor allem Serbien, Montenegro und Albanien würden eine klare Beitrittsperspektive benötigen. Und Bosnien-Herzegowina braucht Stabilität, um als Einfallstor für teilweise extreme Islamisten einen Schlüssel zu erhalten. Wenn der nach Süden blickende französische Präsident auch öfters nach Osten blicken würde, wäre das für Europa hilfreich. Dazu sollte er seinen Landsmann, den großartigen Schriftsteller und Politiker Victor Hugo lesen, der 1849 schrieb: „Ein Tag wird kommen, wo Ihr, Frankreich, Russland, Italien, England, Deutschland, all ihr Nationen des Kontinents ohne die besonderen Eigenheiten Eurer ruhmreichen Individualität einzubüssen, Euch eng zu einer höheren Gemeinschaft zusammenschließen und die große europäische Bruderschaft begründen werdet…“