Die Profiteure der Inflation
von Reinhard Göweil
Beispiel 1: Der mehrheitlich staatliche saudische Ölkonzern Aramco hat Apple als das wertvollste Unternehmen der Welt abgelöst, er ist mehr als 2400 Milliarden Dollar wert. Klimawandel schaut anders aus. Doch nicht nur Klimawandel, sondern auch Marktwirtschaft schaut anders aus. Aramco, das Erdöl fördert, handelt und verarbeitet, hat bereits 2021 seinen Jahresgewinn auf 110 Milliarden Dollar verdoppeln können. Denn die Ölpreise steigen, mit ihnen die Treibstoffpreise.
Oder, simpel ausgedrückt: Ein schöner Teil der Tank-Mehrkosten für den gebrauchten VW-Golf einer Billa-Kassiererin aus dem Weinviertel landet in den Taschen der saudischen Herrscherfamilie. Die eine hat Inflation, die anderen ein Veranlagungs-Problem. Aramco zahlt 50 Milliarden Dollar Dividende nur für dieses Jahr.
Beispiel 2: Die in der Öffentlichkeit weithin unbekannten US-Agrarkonzerne Cargill und ADM (Archer Daniels Midland) sind die größten Kakao-Händler und -Verarbeiter der Welt. Auf sie entfällt etwa ein Drittel des Weltmarkts. Der Kakao-Preis steigt, Schokolade wird teurer. Ein schöner Teil der Mehrkosten für die Schokolade, die sich ein Pensionist aus St. Johann im Pongau kauft, landet in den Taschen von Cargill und ADM. Die Gewinne der beiden (weitgehend familien-geführten) Unternehmen sind in Jahresfrist um 60 Prozent und mehr gestiegen.
Der Mehraufwand des Salzburger Pensionisten sorgt für hohe Gewinnausschüttungen an (freilich große) amerikanische Familienunternehmen.
Beispiel 3: Der Dieselpreis lag zuletzt in Österreich (trotz Steuerprivileg) deutlich höher als jener von Superbenzin. Der sogenannte „Produktenpreis von Rotterdam“ bestimmt den Preis, denn am dortigen Mega-Hafen wird viel Diesel per Schiff angeliefert oder Erdöl in den umliegenden Groß-Raffinierien zu Diesel verarbeitet. Dieser „Produktenpreis“ wird aber nicht an einer offiziellen beaufsichtigten Börse in Rotterdam festgesetzt, über die Anbieter und Nachfrager transparent den Preis bestimmen. Es ist vielmehr so, dass die großen Erdölkonzerne BP, ExxonMobil, Gunvor, Shell, Vitol, Total, Aramco und Lukoil dort Raffinerien und riesige Lager betreiben. Je nach täglicher Auslastung der Raffinerien und Lager-Kapazitäten melden diese Konzerne Preise, die dann von Agenturen konsolidiert veröffentlicht werden. Da diese Konzerne Tankschiffe, Lager und Raffinerien besitzen, steuern sie Menge und Verfügbarkeit der Produkte.
Die genannten Unternehmen können derzeit erhebliche Gewinnzuwächse verbuchen. Das ist schön für sie, aber eine Börse ist der in Medien oft zitierte „Produktenpreis von Rotterdam“ damit nicht. Eher der Wilde Westen mit recht ungleich verteilten Waffen.
Globalisierung = Informationsvorsprung für Wenige
Was alle drei Beispiele vereint ist die traurige Tatsache, dass ausgerechnet die Globalisierung die liberale Marktwirtschaft ad absurdum führt. Das Wesen der Marktwirtschaft ist, dass Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen. Die einen wollen möglichst viel erlösen, die anderen möglichst wenig bezahlen. Eine soziale, faire Marktwirtschaft wie wir sie kennen, fügt hinzu, dass beide Seiten über vergleichbare Informationen verfügen. So entsteht ein Preis. Das ist auch an den Börsen so, deswegen gibt es dort verbindliche Veröffentlichungs- und Transparenzvorschriften – und empfindliche Strafe bei Zuwiderhandeln.
Im Rohstoff-Bereich, der im Moment in den Fokus rückt, weil die Preise von Energie-, Agrar- und Metall-Gütern so unglaublich steigen, gibt es all dies nicht. Unternehmen wie Cargill betreiben eigene Wetter-Satelliten und meteorlogische Dienste. Sie wissen frühzeitig, wo Dürren und Überschwemmungen drohen. Und sie spekulieren mit diesem Wissen.
Abseits der unleugbaren Tatsache, dass der Ukraine-Krieg sowie die Klima-Krise die Rohstoffmärkte generell in große Unordnung versetzt, gibt es von dominierenden Unternehmen in diesem Bereich genutzte Finanzprodukte, die das Ganze noch einmal verschärfen. Denn diese Unternehmen verfügen eben über Wissen und Informationen, die in dieser Tiefe niemand sonst hat.
475 Milliarden Vermögenszuwachs für Rohstoff-Konzerne
Und das zahlt sich aus. Um 475 Milliarden Dollar sind die genannten Rohstoffkonzerne in den vergangenen zwei Jahren reicher geworden bzw. deren überschaubar großer Eigentümer-Kreis. Das errechnete die kritische Nicht-Regierungsorganisation Oxfam im Vorfeld des Weltwirtschaftsforums in Davos 2022.
Da ist aber das Jahr 2022 nicht eingerechnet, da kommt noch einmal ordentlich was dazu. Denn Geld verschwindet nicht einfach, meist wechselt es bloß den Besitzer. Und die höheren Kosten für Energie und Lebensmittel, die Milliarden Menschen derzeit bezahlen, landet zu einem Teil in den Konzernen, die mit diesen Rohstoffen handeln und sie verarbeiten. Es ist eine gigantische Umverteilung von unten nach oben, die derzeit stattfindet.
Sollte die Zahl von Oxfam nur einigermaßen stimmen, dann haben diese Rohstoffkonzerne in zwei Jahren einen Gewinn-Zuwachs erreicht, der etwa den Wert von 20 Prozent der weltweiten Agrarproduktion ausmacht. Die wird allerdings von zirka einer Milliarde Menschen erbracht, die von dieser Preissteigerung nur wenig profitiert.
Eine derart ungerechte Verteilung des Wohlstandes gab es wohl zuletzt in den späten Jahren des 19. Jahrhunderts. Denn zu den hohen Preisen, die alle treffen, gibt es für die Ärmsten der Welt trübe Aussichten: Bauern in den Entwicklungsländern und mittelprächtig entwickelten Regionen können die steigenden Saatgut- und Düngerpreisen kaum oder gar nicht stemmen. Sie verlassen ihre Felder. Dadurch wird noch weniger produziert, eine tödliche Spirale zieht alle nach unten.
Hungersnot und neue Milliardäre
Die Vereinten Nationen befürchten bereits eine Hungersnot in diesen Ländern wie sie lange nicht gesehen wurde. Die Lebensmittelprise werden in den kommenden Monaten noch einmal deutlich steigen und die Inflation in manchen Ländern in die Zweistelligkeit treiben. Es bleibt trauriges Faktum, dass sich zeitgleich die Zahl der Milliardäre aus der US-Eigentümerfamilie Cargill des gleichnamigen Agrar-Rohstoffkonzerns auf zwölf erhöht hat.
„Wie gesagt, Geld verschwindet nicht, es wechselt bloß den Besitzer“, meint ein Banker achselzuckend. Für die Politik in demokratischen, marktwirtschaftlich organisierten Staaten wird diese immense Schieflage zu einem immer größeren Problem.
Auf der einen Seite ist das Argument, dass staatlich verordnete Preise zu Mangelwirtschaft und verheerenden Folgen führen, stichhaltig. In früheren kommunistischen Wirtschaftsblöcken wurde es empirisch festgestellt.
Auf der anderen Seite läuft das Argument, dass der Markt die Preise am besten regelt, ebenfalls in Leere. Das zeigt die aktuelle Entwicklung.
Großbritannien beispielsweise hat beschlossen, alle Energiekonzerne mit einer temporären Zusatz-Gewinnsteuer von 25 Prozent zu belegen. Das Geld soll für Direktzuschüsse an jene Bevölkerungsgruppen verwendet werden, die unter der Inflation am stärksten leiden, also die Einkommensschwächsten.
In Österreich hatte Bundeskanzler Karl Nehammer eine ähnliche Idee, aber nur für die mehrheitlich staatliche Verbundgesellschaft. Das war zu kurz gedacht, die Aktie schmierte ab, was auch Staatsvermögen schmälerte.
Geld verschwindet nicht, es wechselt den Besitzer
Grundsätzlich war der Gedanke nicht falsch. Aber der unterliegt einem Denkfehler: Die Rohstoff-Konzerne sind privat und machen ihre „Zufalls-Gewinne“ eben nicht zufällig, sondern mit einem ausgeklügelten Geschäftsmodell.
Schon 2008 hat ein interner Bericht der Weltbank festgestellt, dass die „Warentermin-Spekulationen mit Agrarrohstoffen“ zu den größten Preistreibern in diesem Rohstoffbereich zählt. Der Bericht fusste auf dem Weltagrarbericht, der von der UNO unterstützt wurde. Die USA, Australien und Kanada lehnten ihn ab, dort sitzen die bedeutenden Agrarkonzerne und ihre Lobbyisten. Der Weltbank-Bericht blieb dementsprechend folgenlos.
Nun taucht die Forderung erneut auf. Denn der Weltbank-Bericht stellte auch fest, dass diese Termin-Geschäfte nicht bloß zur Absicherung von Preis-Stabilität verwendet werden, sondern eben zu erheblichen Teilen auch zur bloßen Profit-Maximierung.
Moralisch stellt sich die Frage, ob mit Lebensmittel spekuliert werden soll und darf. Der Hausverstand sagt nein und liegt wohl nicht ganz falsch damit.
Nationale Souveränität verhindert gerechtere Märkte
Andererseits wird sich auch der wohlstandsverwöhnte „Westen“ mit dem Faktum abfinden müssen, dass die Klima-Katastrophe die Nahrungsmittel großen Preisschwankungen unterwerfen und deren Preisniveau generell anheben wird. Die Frage, die den Wettbewerbs-Wirtschaften bleibt ist, ob die bestimmenden Rohstoffkonzerne daraus zusätzlichen Vorteil ziehen dürfen. Denn diese sind oftmals noch in Korruptionsskandale verwickelt, was die Sache nicht appetitlicher macht.
Für den demokratischen Westen stellt sich so eine Herausforderung, die er bisher nicht kannte: Wie kann das System marktbestimmter Preise aufrechterhalten werden, weil nur dies eine ausreichende Versorgung sicherstellt, ohne dass einige Wenige davon überproportional davon Gewinn ziehen?
Antwort gibt er noch keine, der demokratische Westen. Denn dazu benötigt es überstaatliche Wettbewerbsbehörden, die direkt überstaatlichen Marktmissbrauch beenden könnten. Und eine überstaatliche Aufsichtsbehörde, die mit seltsamen Konstrukten wie dem „Produktenmarkt in Rotterdam“ aufräumt. Das wieder führt zu einem Verlust nationaler Souveränität. Und sind die Menschen, die unter der Inflation stöhnen, dazu bereit? Vielleicht, wenn es Politiker geben würde, die es zu erklären versuchen.
zu detaillierten Zahlen der genannten Konzerne siehe auch Finanznachrichten vom 20. März 2022 – „In der Rohstoff-Welt herrschen die wahren Oligarchen“