Diese Website verwendet Cookies, um bestimmte Funktionen zu ermöglichen.
Mit der Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden. Alle Details finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Erstellt am 19.09.2022

Die Lohnrunde 2022 ist kein Fußball-Match

von Reinhard Göweil

Ölpreisschock und hohe Inflation, das gab es schon Mitte der 1970er Jahre. Damals stiegen die Löhne zweistellig, allerdings entfielen rechnerisch etwa fünf Prozent davon auf die 1975 beschlossene Verkürzung der Wochen-Arbeitszeit von 42 auf 40 Stunden.

Eine rechnerische Erhöhung, die aber in absoluten Zahlen keinen unmittelbaren Effekt hat, das wünschen sich die Kollektivvertrags-Partner wohl auch 2022. Es wird wohl ein Wunsch bleiben, denn die Zeiten haben sich geändert. Die Wettbewerbssituation ist internationaler geworden, Klimakrise und Digitalisierung verändern die Industrie, gleichzeitig macht die Globalisierung wegen Corona und geopolitischer Verwerfungen Pause, auch das lässt die Preise steigen. Der Euro ist zum US-Dollar auf eine 1:1-Parität gesunken.

Darauf pochen die Arbeitgeber, die einen möglichst niedrigen Abschluss anstreben.

Dazu die enorme Teuerung, die zu zwei Drittel auf Energie entfällt – und daher nationaler Gegensteuerung weitgehend entzogen. Denn sie wird entweder importiert oder unterliegt auf liberalisierten Märkten EU-weit geltenden Preisen.

Die Gewerkschaften reagieren darauf mit Schulterschluss. In ÖGB-weiten Veranstaltungen wollten sie schon zuletzt erreichen, dass sich die diversen Branchen nicht auseinander dividieren lassen und bei den Lohnverhandlungen mit einer Zunge gesprochen wird.

Dazu gehört, dass die errechnete Jahresinflation der vergangenen zwölf Monate in Höhe von 6,3 Prozent überall als Unterkante definiert wurde. „Und noch was drauf“, so definierte es der gerne polternd daherkommende ÖGB-Präsident. Mit 10,6 Prozent ging die Gewerkschaft in die Verhandlungen, das ist durchaus „noch was drauf.“

Gewinner-Verlierer-Rezept wäre giftig

So wurde die Herbst-Lohnrunde medial schon zu einem Cup-Spiel im Fußball hoch-gejazzt. Wer gewinnt, wer verliert? Ab welchem Prozentsatz ist es Sieg oder Niederlage für den FC Arbeitgeber, wann für den FC Arbeitnehmer? Welche Blessuren wird es geben, welche Fouls? Ist ein Streik eine rote Karte oder sind es eher von der Geschäftsführung verordnete Betriebsschließungen? Wird die Politik als Stadionpublikum bengalische Feuer auf den Rängen entzünden? Ist die Herbst-Lohnrunde 2022 ein Hochrisikospiel, vor dem die Fans der jeweiligen Mannschaften fein säuberlich getrennt werden müssen?

Das klingt gefährlich, ist es auch. Die Sozialpartner sind gut beraten, den Ball flach zu halten und sich ein Beispiel an 2020 zu nehmen. Frei nach dem Motto „angesagte Revolutionen finden nicht statt“ einigten sich die Metaller damals schon in der ersten Runde auf eine Erhöhung (1,45 Prozent, aber damals war eher von Deflation die Rede…)

Nun sind die Vorzeichen 2022 fundamental anders. Die Forderung des ÖGB, den monatlichen Mindestlohn auf 2000 Euro zu erhöhen macht zwar Druck, aber es ist nicht definiert worden, ob dies bereits 2023 der Fall sein muss, oder nur auf den Weg gebracht werden soll.

Dann gibt es das Instrument der Einmalzahlung. Solche Einmalzahlungen sind unmittelbar wirksam, erhöhen aber die Löhne in den Kollektivverträgen nicht dauerhaft.

Dabei schauen sowohl Wirtschaftskammer als auch Gewerkschaften skeptisch drein. Denn unsichtbarer Zaungast jeder Lohnrunde sind die von den Sozialpartnern beherrschten Sozialversicherungen: Je höher die KV-Löhne, desto höher auch die Einnahmen der Sozialversicherungen. Einmalzahlungen fallen nicht drunter. Die Sozialversicherung benötigt immer Einnahmen, medizinischer Fortschritt und steigende Pensionisten-Zahlen treiben deren Kosten.

In der aktuellen Situation kommen die Anti-Teuerungs-Maßnahmen der Regierung und der Länder dazu. Jeder kriegt Geld, eher nach Gießkanne verteilt, aber dafür gar nicht wenig. Der Staat sorgt für einen Teuerungsausgleich, die Strompreisbremse ist eher üppig gestaltet und bevorzugt kleine Haushalte, allerdings unabhängig von deren Einkommen. Nun kommt auch der Energiekostenzuschuss für Unternehmen dazu, immerhin 1,3 Milliarden Euro für sechs Monate.

Die große Frage wird also sein, ob es ein Plus zur Inflationsabgeltung geben kann oder soll. Richtig ist, dass durch die hohen Energiepreise die europäische Wirtschaft global an Wettbewerbsfähigkeit verlieren wird, der „Standort Europa“ wird weniger attraktiv.

Die Chance, dass europäische Länder über den Winter in eine Rezession schlittern ist real. Üblicherweise werden solche Prognosen bei Lohnrunden wenigstens mit bedacht, auch wenn offiziell die vergangenen 12 Monate abgegolten werden.

Arbeitszeiten dürfen kein Tabu sein

Wie immer in so schwierigen Phasen ist Innovationsfähigkeit ein wichtiger Wert. Vier-Tage-Woche und das Faktum, dass viele Junge mit 30 Wochenstunden zufrieden wären, weil Work-Life-Balance eine größere Rolle spielt, könnte etwa – wie 1975 – ins Auge gefasst werden. Eine Arbeitszeitverkürzung würde einer Lohnerhöhung entsprechen. Viele Unternehmen haben damit keine Freude, weil sie ohnehin schon Probleme haben, Personal zu rekrutieren. Allerdings könnten Unternehmen bei flexibleren Arbeitszeiten als Arbeitgeber attraktiver werden, etwa in Gastronomie und Hotellerie. Solchen flexiblen Regelungen würden Überstunden-Regeln zum Opfer fallen, das muss dazu gesagt werden. Für die Gewerkschaften nach der Einführung des 12-Stunden-Tages ist dies eine sehr hohe Hürde.

Mixtur inklusive Home-Office

Eine Mixtur aus Erhöhungen, Einmalzahlungen und Drehen an Arbeitszeitregelungen könnte insgesamt zu einem ordentlichen Lohnzuwachs führen, ohne die Unternehmen allzu stark zu belasten.

Dazu kommen andere Themen, etwa Home-Office. Viele Unternehmen bieten das an, weil es etwa die benötigten Räumlichkeiten und damit Miete reduziert. In produzierenden Unternehmen sind Home-Office-Regelungen meist unmöglich, aber im Dienstleistungsbereich nicht.

Es besteht aber kein einseitiger Rechtanspruch des Arbeitnehmers auf Home-Office. Unternehmen, die das partout ablehnen oder sehr restriktiv handhaben, bekommen jetzt schon Probleme, Leute zu finden – und beklagen dann den Personalmangel. Dies zu Gunsten der Arbeitnehmer zu ändern, wäre eine vertretbare Forderung.

Dass in der laufenden Steuerreform Prämien bis 3000 Euro jährlich steuerfrei gestellt wurden ist ebenfalls positiv. Auch wenn die Gewerkschaften solche „Gewinnbeteiligungen“ skeptisch sehen, weil sie nach Gutdünken ausbezahlt werden, ist es ein zusätzlicher Anreiz.

Hauptproblem zwischen Brutto- und Nettolöhnen bleiben aber die Sozialabgaben und andere am Einkommen hängende Abgaben (Familienlastenausgleichfonds FLAF, Kommunalsteuer). Dies zu entkoppeln ist nicht Aufgabe von Lohnverhandlungen, aber wäre wünschenswert. Beim FLAF gibt es erste Entwicklungen dazu.

Die Komplexität der mehr als 450 Kollektivverträge, die jährlich angepasst werden ist schon groß genug – so scheint es. Den Beginn machen die Metaller, auch dies ein Ritual. In der metallverarbeitenden Industrie werden derzeit 135.000 Beschäftigte dadurch erfasst. Mitte der 1970er Jahre waren es noch 250.000.

Der Unterschied zwischen Arbeiter und Angestellten ist in der Modernisierung der Industrie fast verschwunden. Relikte dieser früheren Weiß- und Blaukragen-Mentalität gibt es aber immer noch., etwa in der gewerkschaftlichen Organisation. Sie sollten endgültig über Bord geworfen werden. Auch das würde Lohnverhandlungen verändern.

Die hohe Inflation mag in dieser Gemengelage nur ein Tropfen zuviel sein für die Herbst-Lohnrunde 2022. Die Chance, dass sich daraus ein hartes Fußball-Match entwickelt, ist jedenfalls hoch. Wenn die Sozialpartner ihre Rolle ernst nehmen und weiterhin als Stabilitätsfaktor in ohnehin schwierigen Zeiten gelten wollen, dann vermeiden sie dieses Match tunlichst. Wenn der Preis dafür das Schattenboxen im Vorfeld war – geschenkt.

Unterkante: Die 7 vor der Kommastelle

Zum Abschluss eine Kaffeesud-Leserei: Der Abschluss wird wohl – insgesamt – die 7 vor dem Komma haben. Eine Glückszahl immerhin. Bloße Inflationsabgeltung ist den Gewerkschaften zuwenig, die volle Einrechnung des Produktivitätsfortschrittes würde etliche Unternehmen überfordern. Möglich, dass es rechnerisch die 8 wird, aber da muss die Einmalzahlung schon üppig ausfallen. Was angesichts der Steuerfreiheit bis 3000 Euro jährlich, das sind 250 Euro monatlich, Spielraum eröffnet.

 

(aktualisiert am 28. September 2022 um 13,30 Uhr.)