Der digitale Schwarm hat die Finanzmärkte entdeckt
von Reinhard Göweil
„Silly Money“ wird der Einsatz von Kleinanlegern an den großen Börsen gerne genannt. Große Fonds, von Versicherungen über Pensionsfonds bis hin zu spekulativeren Hegde-Fonds beherrschen den Markt. Nun zeigten die kleinen Direktanleger in den USA gehörig auf. Rund um die GameStop-Aktie, ein vergleichsweise bedeutungsloses Unternehmen, ist ein System-Streit entbrannt, der an Brisanz nicht zu wünschen übrig lässt. Große Hedgefonds setzten mittels Leerverkäufen auf fallende Kurse wegen des umstrittenen Geschäftsmodells. Daraufhin begannen Kleinanleger über Online-Broker diese Aktie zu kaufen – und obsiegten kurzfristig.
Welche Rolle spielen die Online-Broker?
Tesla- und SpaceX-Gründer Elon Musk, eine der schillernden Figuren im „Silicon Valley“ schlug sich auf ihre Seite, weil dem diese Leerverkäufe ein Dorn im Auge sind. Musk ist aktuell der reichste Amerikaner, vor allem weil die Aktie seines E-Autoherstellers Tesla stieg und stieg.
Nun sind alle in heller Aufregung, denn Online-Broker wie „Robinhood“ unterbrachen kürzlich den Handel mit der Gamestop-Aktie, und nahmen so den Kleinanlegern ihren Zugang zur Börse weg. Das hat zu Ermittlungen in den US-Bundestaaten Texas und New York geführt, die amerikanische Börseaufsicht SEC untersucht den Fall. Doch es geht um viel mehr.
Leerverkäufe sind stark umstritten
Es geht erstens um das Instrument der sogenannten Leerverkäufe, bei dem ein Investor auf die Entwicklung einer Aktie zu setzen, ohne sie zu besitzen. Beispiel: Großinvestoren erwerben Optionen, um zu einem bestimmten Zeitpunkt Aktien eines Unternehmens zu einem bestimmten Preis zu verkaufen. Gleichzeitig kaufen sie Optionen, die auf fallende Kurse setzen. Wenn das Spiel aufgeht, kaufen sie zum vereinbarten Zeitpunkt die Aktie billiger als ursprünglich vereinbart. Die Differenz ist Gewinn, ohne jemals Aktionär des Unternehmens gewesen zu sein. Man nennt das Spekulation. Da sich solche Finanz-Manager Unternehmen herauspicken, die Schwächen aufweisen, wird es von Experten auch als stabilisierend beschrieben, da bei solchen Attacken Unternehmen beginnen, sich stärker anzustrengen oder unterzugehen. Und große Investoren können wegen der höheren Handelsvolumina so interne Risken ausgleichen. Es ist ein bisserl wie im Kasino auf rot und schwarz gleichzeitig zu setzen. Das Instrument der Leerverkäufe ist umstritten, weil es Fonds erlaubt, nach eigenem Gutdünken Firmen unter Druck zu setzen. Es ist auch umstritten, weil im gesamten Vorgang der Investor die Aktien nicht besitzt, es also ein Luftgeschäft ist. Daher werden auch immer von Aufsichtsbehörden derartige Leerverkäufe untersagt, etwa während der Finanzkrise ab 2008. Manche, wie auch Elon Musk, fordern ein generelles Verbot dieser Spekulation.
Lehren aus der Finanzkrise: Null
Genau mit der Finanzkrise begründen Kleinanleger in den sozialen Medien ihr Engagement. Die große Finanzkrise habe zu keinem Umdenken geführt, jene Spekulation, die beinahe zum Untergang des Finanzsystems führte, würde nach wie vor betrieben. Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen, hat aber zwei Mängel.
Erstens: Der Schwarm ist nicht intelligent. Die Konzentration auf – im Vergleich – marktenge Titel wird am Ende dazu führen, dass viele aus den Aktien nicht mehr rauskommen, weil es an Angebot und vor allem Nachfrage fehlt. „Am Ende wird jedem das Hemd näher sein als der Rock, niemand verliert gerne Geld“, meinte ein Privatinvestor. Wenn also viele der Kleinanleger mit Verlusten aus der Gamestop-Aktie aussteigen, wird der Schwarm bald schrumpfen.
Zweitens: Hinter den geschmähten Hedgefonds stecken meist Geldgeber wie Pensionsfonds. Auch ein amerikanischer Feuerwehrmann, der vielleicht sogar mit kleinen Beträgen gegen die „Heuschrecken“ investiert, wird Einbußen verzeichnen, wenn solche Hedgefonds pleite gehen oder frisches Kapital benötigen.
Wie sich also das Gamestop-Phänomen weiterentwickelt, ist derzeit offen. Es ist jedenfalls weder ausreichend geeignet für eine Diskussion „David gegen Goliath“ noch für „Gut gegen Böse“.
Finger in die Wunde gelegt
So hat die Handels-Plattform Robinhood.com den Handel mit Gamestop-Aktien möglicherweise gestoppt, weil aufgrund der vielen Kauforders ein Kredit-Risiko entstand, das die Möglichkeiten dieser Online-Plattform überstieg. Gab es Druck der finanzierenden Banken? Das werden nun in den USA Börseaufsicht und Gerichte klären. Auch das europäische Parlament wird nun tätig. Tatsächlich ist es prüfenswert, wenn sich Börsemakler weigern Orders durchzuführen. Denn die Börsen sind das augenscheinliche Beispiel für einen freien Markt, zu dem jeder freien Zugang besitzt. Dass die größten Fonds der Welt Kurse unter sich ausmachen, ist ein grober Wettbewerbsverstoß. So gesehen, legt dieser „Anleger-Schwarm“ den Finger in die Wunde.
Silber glänzt hell
Die andere Frage ist, ob dieses Beispiel tatsächlich dazu führt, die Börse zu „demokratisieren“. Große Titel wie die Internet-Größen, deren Marktkapitalisierung zwischen 750 Milliarden und 2000 Milliarden Dollar (Apple) liegt, werden dafür zu groß und unangreifbar sein. Aber Unternehmen mit einem geringeren Streubesitz stehen sich durchaus solchen Anforderungen ausgesetzt, wie aktuell die in Deutschland notierende Aktie des Batterieherstelles Varta (die vom österreichischen Unternehmer Tojner beherrscht wird).
Mittlerweile macht sich der Schwarm auch bei Rohstoffen breit. Ebenfalls über die Plattform Reddit wurde Ende Jänner 2021 Silber zum Kauf empfohlen, sie setzte sich unter #silversqueeze auf Twitter fort. Das führte zu einem Kursanstieg des Edelmetalls im Wochenvergleich von fast 20 Prozent auf 30 Dollar je Unze. Auch bei solchen Commodities gibt es wettähnliche Optionsgeschäfte, derart große Preissprünge sind aber mehr als ungewöhnlich.
Hier ist ein kleiner Einschub notwendig. Wenn große Investoren bei Spekulationen auf dem falschen Fuß erwischt werden, beginnen sie das Wertpapier noch innerhalb der Transaktionsfrist zu kaufen, um nicht am Schluss zum Höchstpreis kaufen zu müssen. „Short Squeeze“ wird das genannt. Das freilich hat zur Folge, dass ausgerechnet jene, die auf fallende Kurse setzen den Höhenflug der Kurse nochmals beschleunigen. Ein finanztechnischer Kannibalismus sozusagen.
Cyberwar an der Börse?
Der „Anleger-Flashmob“ bringt freilich die Aufsichtsbehörden und das System selbst gehörig unter Druck. Einerseits muss sich die Aufsicht fragen, wie solche Plattformen wie Reddit und nun auch Twitter reguliert werden können. Theoretisch könnte ja jeder Nutzer irgendwo auf dem Planeten einen solche Hype auslösen, auch mit überaus niederen Motiven. Hier für Transparenz zu sorgen wird enorm schwierig, denn eine globale Crowd ist für nationale oder EU-Aufsichtsbehörden nicht beherrschbar. Es ist zudem ein Sicherheitsrisiko, weil es quasi militärisch als Kampfmittel eingesetzt werden kann: Cyberwar im Finanzsystem sozusagen. Im Ernstfall können sogar systemrelevante Banken, die als Finanzier von Investmentgesellschaften auftreten, zum Einsturz gebracht werden.
Aktien mehrmals verliehen
Ein Ausweg wäre, die bisher erlaubten Spekulationsgeschäfte dramatisch einzuschränken, also zu verbieten. Bei den attackierten Leer-Verkäufen, im Branchenjargon Shortselling genannt, benötigt der Spekulant einen Anteilseigner, der ihm das Wertpapier (gegen Gebühr) leiht. Das ist allerdings bis zu viermal zu Möglichkeit. Ein Aktionär kann also seine Aktie an vier „Shortseller“ verleihen. Das klingt nicht nur absurd, das ist absurd. Denn das passiert, und generiert ein Handelsvolumen, das keine wirtschaftliche Basis hat. Wem das nun an die Finanzkrise 2008 erinnert, liegt nicht ganz falsch. Und dass es bis heute möglich ist zeigt, wie wenig daraus gelernt wurde.
Aufsichtsbehörden sind überfordert
Wenn also der Börse-Flashmob etwas zustande bringen kann dann die Untersagung mancher Handelsaktivitäten durch die Aufsichtsbehörden. Dies war bisher nicht möglich, weil von New York, London, Paris, Shanghai bis Tokio erklärt wurde, wenn es der eine nicht macht, tut es anderer. Die aktuelle Social Media-Crowd indes beweist, dass sie USA, Europa und Asien inklusive China umfasst. Grund genug für Aufsichtsbehörden, ihren Blick auf globale Lösungen zu lenken.
Umso mehr als Kryptowährungen wie Bitcoin ihren Preis ebenfalls vollständig unreglementiert darstellen, und viele Menschen damit – abseits der aktuellen Bewertung – viel Geld verloren haben. Konsumentenschutz auf Bausparverträge zu lenken, aber diese neuen digitalen Investments zu negieren wäre regulatorisch betrachtet nicht einmal von vorgestern.