Das kapitale 20-Milliarden-Loch
von Reinhard Göweil
Die Industrie ist beunruhigt. Neuaufträge zeigen für 2021 eine Abschwächung der aktuellen Erholung. Und viele Großunternehmen machen sich Sorgen, dass Corona-bedingt ab Herbst 2020 eine Insolvenzwelle von kleineren, aber wichtigen Zuliefer-Betrieben den Produktionsablauf stört oder sogar unterbricht. Was vielen Klein- und Mittelunternehmen (KMU) fehlt ist Eigenkapital. Der „Lockdown“ im Frühjahr hat viele Wunden geschlagen, auch in der Eigenkapital-Ausstattung dieser KMU. Ein gemeinsames Papier von EU-Kommission und OECD, einem think tank der wichtigsten Industrieländer weltweit, hat errechnet, dass in der EU „an sich überlebensfähigen Unternehmen“ 720 Milliarden Euro an Eigenkapital fehlen wird. Umgerechnet auf die Wirtschaftsleistung macht dieses Loch in Österreich 20 Milliarden Euro aus. Da diese Klein- und Mittelunternehmen aber mehr als zwei Millionen Arbeitnehmer beschäftigen, und das Rückgrat der Wirtschaft bilden, sollte dies niemand kalt lassen.
Woher nehmen, wenn nicht stehlen?
Banken sind regulatorisch nicht in der Lage, an Unternehmen mit niedrigerem Eigenkapital Kredite zu vergeben. Wenn also die Geldzufuhr fehlt, bleiben Rechnungen und/oder Löhne unbezahlt, die Insolvenz ist oft unvermeidlich. Für größere Industrieunternehmen, die dieses Problem nicht haben, ergibt sich daraus ein Dominoeffekt: Wenn etwa gefährdete Unternehmen für (oft spezialisierte) Wartungs- und IT-Arbeiten notwendig sind, die nicht mehr durchgeführt werden, steht deren Produktion ebenfalls. „Mit abnehmender Betriebsgröße steigt die Volatilität, kleinere Unternehmen können mit derartigen Krisen schlecht oder gar nicht umgehen“, sagte Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung, den „FN“. „Wenn solche Unternehmen auch noch als Drittunternehmer Wartungen für gelieferte Industrie-Anlagen machen, was nicht ungewöhnlich ist, würden Industriebetriebe vertragsbrüchig, weil ein quasi Subunternehmer wegen Corona insolvent wird.“ Daher das eminente Interesse der Industriellenvereinigung, bei KMU die Eigenkapital-Zufuhr zu stärken.
Und diese Eigenkapital-Lücke, die Covid-19 schlägt, macht in Österreich 20 Milliarden Euro aus. Hinter den Kulissen werden derzeit Ideen gewälzt, wie damit umzugehen ist. Dass sich die Republik hier engagieren wird müssen, ist unter Experten wenig umstritten. Über das Wie herrscht schon weniger Einigkeit. Und in der Politik wird das Thema wie eine heiße Kartoffel herumgereicht.
Zwar hat Wirtschaftsministerin Schramböck Anfang Juli einen staatlich finanzierten Eigenkapitalfonds in Höhe von 500 Millionen Euro angekündigt, aber das ist erstens zuwenig und zweitens fehlen seither die Details.
Politisches Minenfeld
Für die Regierung ist solch ein Instrument ein politisches Minenfeld, denn staatlich vergebenes oder wenigstens garantiertes Eigenkapital für private Unternehmen klingt ein wenig kommunistisch. „Es müsste Eigenkapital sein, das eingeschränkte oder gar keine Stimmrechte beinhaltet“, sagte ein Banker. Das gibt es freilich noch nicht.
Wie weiland während der Finanzkrise den Banken Partizipationskapital gegeben wurde, kommt nicht in Frage. Die Konstruktion war windschief, und in Summe für die Republik ein ziemliches Verlustgeschäft. Es würde dazu ein Sondergesetz brauchen, aber die Debatte in Parlament und Öffentlichkeit traut sich noch keiner zu führen. Trotzdem wird es notwendig sein, ein solches Eigenkapital-Vehikel zu schaffen, um eine Insolvenzwelle zu verhindern. Das ist auch der Regierung klar.
300 Milliarden liegen auf Sparbüchern brach
Warum also nicht privates Kapital anzapfen? Der liberale think tank „Agenda Austria“ hat kürzlich darauf hingewiesen, dass etwa 300 Milliarden Euro auf österreichischen Sparbüchern so gut wie unverzinst herumliegen. Warum nicht das Potenzial anzapfen? Nun, erstens ist der Kapitalmarkt in Österreich – im Vergleich zu angelsächsischen Ländern – nicht besonders beliebt. Zuviel Risiko, manchmal keine unmittelbare Verfügbarkeit über das eigene Geld. Eine neue Sparkultur wäre also notwendig, denn – so Agenda Austria: „Ohne Kapitalmärkte bleibt den Unternehmen nur der Gang zur Bank.“ Und plädiert für einen „modernen Eigenkapitalismus“.
Raiffeisen bastelt an Beteiligungsfonds
Der Raiffeisen-Bankensektor arbeitet derzeit emsig daran, durchaus aus Eigeninteresse. Die dezentral organisierten Banken unterm Giebelkreuz haben viele Klein- und Mittelbetriebe als Kunden. Die Übergabe von Firmen an die nächste Generation gilt als Problemfall. Wenn nicht die Eigentümerfamilie, sondern Geschäftsführer oder Mitarbeiter diese Firma übernehmen wollen, stehen diese oft vor unüberwindlichen Kapital-Hürden. Raiffeisen arbeitet hier an einem Fonds-Modell, das Sparguthaben anziehen soll und für Firmen als Eigenkapital verwendet werden kann. Und auf dieses Eigenkapital können wieder Kredite vergeben werden. Eine „große Lösung“ für ein 20-Milliarden-Loch ist indes auch das nicht.
Förderkredite in Kapital wandeln
Diese Kapitaldebatte trifft freilich alle EU-Länder, und in Deutschland scheint sie gehaltvoller diskutiert zu werden. Dort wird überlegt, Kredite der öffentlichen Förderbank KfW in Eigenkapital umzuwandeln. Und die Firmen zahlen dafür mittels Zuschlag zur Körperschaftsteuer. „Das wäre ein geeigneter Weg, weil er rechtlich leichter darstellbar und auch administrativ machbar wäre. Neue Strukturen dafür aufzubauen, wäre ein bürokratischer Super-Gau“, sagte ein Experte, der sich damit beschäftigt.
In Österreich würden dafür die Cofag-Garantien zur Verfügung stehen. Diese Cofag-Regelung wurde im Zuge der Corona-Krise als Finanzierungs-Instrument für Unternehmen geschaffen und hat derzeit vier Milliarden Euro an Unternehmen in Form von Garantien vergeben. Zur Verfügung stehen 15 Milliarden, davon sieben Milliarden Euro als Garantien und acht Milliarden als Zuschüsse. Diese in Eigenmittel zu wandeln ist technisch machbar, aber politisch heikel.
Ebenfalls denkbar ist, die Steuerstundungen an Unternehmen wenigstens teilweise in Eigenkapital zu wandeln. „Das ist rechtlich eine Sisyphos-Arbeit, weil Steuerstundungen kein Kreditvertag zugrunde liegt. Daraus Wertpapiere zu machen, geht derzeit gar nicht. Es würde ein Sondergesetz benötigen, vielleicht sogar im Verfassungsrang “, sagte dieser Experte, der anonym bleiben wollte. „Das wird kompliziert, und ist politisch kaum durchsetzbar.“
Angst vor Kontrollverlust
Als „Dividende“ für dieses staatliche Eigenkapital schlagen – wie erwähnt – namhafte Ökonomen wie Olivier Blanchard (früher beim Internationalen Währungsfonds) vor, einen Zuschlag auf die Körperschaftsteuer einzuheben. Das wäre bürokratisch am einfachsten durchzusetzen, und mit dieser Zahlung kauft sich der Unternehmer von staatlichen Stimmrechten frei. Denn der Verlust von Kontrolle über das Unternehmen sowie die Publizität wiegt für manche Familienunternehmen schwerer als niedrige Eigenkapitalquoten. Das gilt es für die Politik zu berücksichtigen, denn die Zeit drängt. Viele Unternehmen werden spätestens im vierten Quartal 2020 feststellen, dass sie Eigenmittel benötigen, um über die Runden zu kommen. Wie dieses Eigenkapital genau heißen wird, und wie die normal daraus resultierenden Stimmrechte vermieden werden können, das steht in den politischen Sternen.
Wann und Wie steigt der Staat wieder aus?
„Beim Staat als Eigentümer gibt es immer eine meta-politische Ebene, die mit betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten wenig zu tun haben. Mir wären Instrumente lieber, die etwa private Kleinanleger mit steuerlichen Begünstigungen in solche Beteiligungen locken“, sagte Claus Raidl, mittlerweile pensionierter, aber langjähriger Spitzenmanager in Staatsbetrieben, der etwa den Edelstahlkonzern Böhler-Uddeholm (heute voestalpine) an die Börse führte.
„Aber wenn sich der Staat schon in irgendeiner Art und Weise in Unternehmen engagiert, muss von Beginn an der Exit klar sein, also der Ausstieg aus dieser Beteiligung. Da in diesen Corona-Fällen so gut wie kein Unternehmen an der Börse notiert, stellt sich die Frage der Bewertung. Das muss vorher alles vereinbart sein, denn dauerhaft kann so was nicht sein.“ Klar ist eines: Die staatliche Beteiligungs-Holding ÖBAG wird in der Corona-bedingten Eigenkapital-Beschaffung für KMU keine Rolle spielen, dazu ist sie selbst im Moment zu instabil.
Europäischer Pandemie-Beteiligungsfonds
Vielleicht hilft hier die EU. In Brüssel werden ähnliche Pläne gewälzt, die in Form eines „Europäischen Pandemie-Beteiligungsfonds“ herumgeistern. Der Vorschlag von Jan Krahnen, Direktor des Leibniz-Instituts in Frankfurt und fünf Ökonomen anderer Universitäten lautet, dass dieser Fonds Barinvestitionen tätigen würde und im Gegenzug Anteile an zukünftigen Gewinnen erhielte. Er wäre offen für Unternehmen jeder Größe, und die Unternehmen könnten sich letztlich zu einem vorher festgelegten Preis aus dem Plan herauskaufen. Auch die Europäische Investitionsbank EIB, im Besitz der EU-Länder, sowie der europäische Krisenfonds ESM machen sich Gedanken zur Stärkung des Kapitalmarktes in Europa. Die EU-Kommission hat die Zahlungsfähigkeit von Unternehmen jüngst als ein Hauptrisiko eingestuft und davor gewarnt, dass ein Anstieg der Insolvenzen „den Pandemieschock verstärken und verlängern könnte.“
Während also in europäischen Gremien das Thema auf dem Tisch ist, übt sich die heimische Politik noch in Zurückhaltung. Es gibt viele gute Ideen, die in vielen Expertenrunden gewälzt werden, etwa auch Branchen-Fonds, die dann an der Wiener Börse notieren, aber keinen klaren politischen Willen, dieses beträchtliche Eigenkapital-Loch, das ein Virus geschlagen hat, zu stopfen.