Das große Spiel Europas hat begonnen
von Reinhard Göweil
Es ist der alte Machtkampf zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat der (noch 28) EU-Regierungschefs. Und es ist ein Kampf um die Hoheit über 1100 Milliarden Euro EU-Budget bis 2027 sowie die künftige Ausrichtung der Geld- und Zinspolitik der Europäischen Zentralbank. Nach der Wahl zum Europäischen Parlament geht es nun um „real money“. Den Anfang machen die Regierungschef mit ihrem „Brüsseler Dinner“ in der Nacht von Dienstag, 28. auf Mittwoch 29. Mai.
Die Aufstellung:
Das Europäische Parlament hat 751 Abgeordnete neu gewählt. Die bisherige Mehrheit aus Christ- und Sozialdemokraten ist vorbei, Liberale und Grüne haben deutlich zugelegt, aber auch nationalistische und teils recht unverhohlen rechtsextreme Parteien. Auch Kleinparteien, die derzeit keiner der etablierten Fraktionen angehören, stellen immerhin 29 Abgeordnete im Europäischen Parlament. Die deutsche Satire-Partei des ehemaligen Titanic-Chefredakteurs Sonneberg hat jetzt drei EU-Parlamentarier. Auch die werden sich überlegen müssen, ob Spaß als Konzept für weitere fünf Jahre ausreicht.
Die Christdemokraten bleiben stärkste Fraktion, die EVP kommt auf 180 Abgeordnete, oder 24 Prozent. Ein Minus von fünf Prozent. Darin enthalten sind 13 Parlamentarier der ungarischen Fidesz-Partei von Viktor Orban. Wenn der italienische Parteichef der Lega, Salvini, recht hat, werden die zu einer neuen rechts-nationalistischen Fraktion wechseln.
Die Sozialdemokraten kommen auf 19,4 Prozent, das sind 146 Sitze, ein Minus von 41 Sitzen.Ob die ohnehin arg gerupften rumänischen Sozialdemokraten in deren Fraktion bleiben, ist angesichts der Korruptions-Skandale der Partei ungewiss.
Die Liberalen gewannen – dank des Beitritts von Macrons‘ En Marche – 41 auf 109 Sitze. Das sind 14,5 Prozent. Die Liberalen sind damit das Zünglein an der Waage in der Wahl künftiger Spitzenposten.
Die Grünen können ebenfalls zulegen, um 17 auf 69 Sitze.
Um Liberale und Grüne hat sich also die sogenannte politische Mitte verbreitert, denn Christ- und Sozialdemokraten haben gemeinsam nur noch 326 Sitze – weit weg von der Mehrheit, die bei 376 beginnt.
„Osteuropa“ ist liberaler als alle denken
Und in Osteuropa haben die nationalistischen Parteien nicht so stark reüssiert wie zu erwarten war. In Ungarn, Polen, Rumänien, den baltischen Staaten, Slowakei und Slowenien gewannen liberale pro-europäische Parteien stark dazu, was im aktuellen Gewusel bisher leider unterging.
Sollten die Briten austreten, reduziert sich das EU-Parlament auf 705 Sitze. 73 britische Abgeorndete gehen, 27 Sitze werden auf die verbleibenden 27 verteilt. Davon erhalten Frankreich und Spanien jeweils fünf Sitze, Rumänien, Italien, Niederlande jeweils drei Sitze. Österreich erhält einen dazu, der vermutlich den Grünen zufällt.
Die Europäische Kommission erhält pro Land einen Kommissar. Das ist für Österreich im Moment interessant, denn dieser Kommissars-Kandidat braucht eine Mehrheit im Hauptausschuss des Nationalrates. Da es derzeit keine Regierungsmehrheit gibt und eigentlich „nur“ Oppositionsparteien stellt sich erstmals die Frage, welche Person eine Mehrheit im freien Spiel der Kräfte auf sich vereinigen kann. Denn sollte der Brüsseler Fahrplan halten, steht diese Entscheidung vor der Bildung einer neuen Regierung in Wien an.
Der Europäische Rat: Zehn der 28 Regierungschefs sind EVP-Konservative, derzeit. Liberale sind im Aufwind, stellen sieben mit Frankreich; die Sozialdemokraten sechs. In Griechenland, Österreich, Belgien gelten die Regierungschefs als Wackelkandidaten. Starker Mann in diesem Rat ist derzeit wohl Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Denn die deutsche CDU/CSU bzw. Angela Merkel wurde arg dezimiert bei der Europawahl, die SPD noch ärger. Macrons Partei kam zwar hinter Le Pen-Nationalisten zu liegen, aber auch die haben Stimmen verloren. Macron ist kein Freund des Spitzenkandidaten-Konzepts. Immerhin muss dieser Rat dem Parlament Kandidaten für den Präsidenten der Europäischen Kommission vorschlagen, das gedenkt er auch zu machen.
Aus dieser Aufstellung der EU-Institutionen versuchen die „finanznachrichten“ nun eine mögliche Zusammensetzung der Top-Jobs zu erahnen. Die muss Ost-West, Groß-Klein, Partei-Zugehörigkeit, Geschlecht austarieren. Sollte der Plan halten, wollen die Regierungschefs am 22. Juni trotzdem einen Vorschlag unterbreiten und ein Personal-Paket haben.
Die Kandidaten
Als Präsidentin der Europäischen Kommission ist Margrethe Vestager denkbar. Die Dänin ist derzeit Wettbewerbs-Kommissarin, eine Liberale und ausgeprägte politische Persönlichkeit, die Großkonzerne in ihre Schranken wies, insbesondere die Daten-Oligopole aus den USA wie Facebook, Google, Amazon.
Als Präsidentin des Europäischen Rates – diese Position hat derzeit der Pole Donald Tusk inne – wäre die scheidende litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite nach unserer Ansicht gut geeignet. Sie war in den 2000er-Jahren bereits Mitglied der EU-Kommission, kennte das Brüsseler Getriebe also von innen und gut. Sie ist eine Konservative, offiziell parteilos.
Als Außenbeauftragte der EU hört Federica Mogherini auf. Die italienische Sozialdemokratin könnte von Frans Timmermans ersetzt werden. Der niederländische Sozialdemokrat war Spitzenkandidat der SP-Fraktion in der Europa-Wahl und schnitt in seinem Heimatland sehr gut ab. Timmermans ist derzeit Vizepräsident der EU-Kommission, rechte Hand des scheidenden Jean-Claude Juncker und ein intimer Kenner Brüsseler Verhältnisse. Als ehemaliger Außenminister der Niederlande würde der mehrsprachige Timmermans dafür alle Voraussetzungen bieten.
Als Parlamentspräsident könnte schließlich Manfred Weber nominiert werden. Der aus der CSU stammende Politiker wollte zwar Kommissions-Chef werden, aber die deutschen Christdemokraten schnitten schlecht ab, auch in Bayern. Er ist Spitzenkandidat der EVP-Fraktion gewesen, die weiterhin die stärkste Fraktion stellt. Als Parlamentspräsident würde der über alle Fraktionen hinweg angesehene Europa-Parlamentarier doch noch einen Top-Job erhalten.
Bleibt noch der künftige Präsident der Europäischen Zentralbank. Da Weber Deutscher ist, würde dieser Job dann wohl den Franzosen zufallen. Zwar wünscht sich der deutsche Bundesbank-Chef Jens Weidmann diese Position, aber mehr als ein Deutscher „on the top“ geht halt nicht. Als Kandidaten gelten Frankreichs Notenbank-Chef François Villeroy de Galhau, der aus der (in der Versenkung verschwundenen) französischen Sozialdemokratie stammt, aber Macron gut kennt. Er steht für die eher lockere Geldpolitik des aktuellen Präsidenten Mario Draghi, dessen Amtszeit im Oktober 2019 endet. EZB-Direktor Benoit Coeure wird genannt, mehr aber auch nicht.
EZB-Präsident ist wichtiger als Kommissionspräsident
Die Personalie um den EZB-Präsidenten dürfte von allen die schwierigste werden, denn entschieden wird das unter den 19 Euro-Mitgliedsstaaten und nicht aller EU-Länder. Und die Regierungschefs wissen eines: Seit der Finanz- und Eurokrise ist die EZB der größte Gläubiger der Euro-Staaten. Und die EZB bestimmt die Euro-Zinsen und hat die Aufsicht über länderübergreifend tätige Großbanken in Europa.
Der EZB-Präsident ist daher der operativ mächtigste Job in Europa. Er wird vom Europäischen Rat bestimmt, das EU-Parlament hat formell nichts zu sagen. Allerdings muss sich der EZB-Präsident danach regelmäßig einer Befragung des Währungsausschusses des EU-Parlaments stellen.
Um diese Position wird es also ein hartes Gerangel geben, und es ist nicht ausgeschlossen, dass sich Deutschland und Frankreich hier in die Haare kriegen. Und es auch nicht ausgeschlossen, dass die Länder den EZB-Präsidenten über den Kommissionspräsidenten stellen.
Die kommenden Wochen werden es zeigen, wohin Europa marschiert. Und nachdem die Top-Jobs vergeben sind, kommen jene in der zweiten und dritten Reihe dran. In der sich auch Österreicher finden, hofft Ihr
Reinhard Göweil