Afghanistan 2021 – das historische Ende von 1989
von Reinhard Göweil
Alle neun Milliarden Dollar an Devisenreserven Afghanistans sind in der US-Notenbank Fed und in der weithin unbekannten „Bank der Notenbanken“, der in der Schweiz sitzenden Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) gebunkert. Damit sind sie dem Zugriff der nunmehr in Kabul herrschenden Taliban entzogen. Ein unbekannter Teil der im Kabuler Präsidentenpalast gelagerten Schätze hat der geflüchtete Ex-Präsident Ghani mit ins Exil genommen. Wer darüber nun verfügt ist offiziell unbekannt.
Vermutlich wissen es die US-Regierung und mit ihr verbündete Golfstaaten. Eine arme Freude, wer auf die Bilder am Kabuler Flughafen blickte. Warum die rasante Implosion des afghanischen Systems, jahrelang gestützt auf Nato-Streitkräfte, von den westlichen Nachrichtendiensten nicht erkannt wurde, ist Gegenstand massiver Diskussionen. Zu Recht, denn allein die Berichte der dortigen Botschaften und der UN-Organisationen hätten alle Alarmglocken schrillen lassen müssen. Durch die zweite Dürre in drei Jahren ist jeder Dritte der 36 Millionen Afghanen von Hunger bedroht. Das „World Food Programme“ der UNO schafft es nicht, die in Lagern von Nachbarstaaten wie Usbekistan liegenden Nahrungsmitteln vor dem kommenden Winter nach Afghanistan zu schaffen. Auch die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO warnt seit langem, dass es nicht einmal möglich ist, das Vieh in Afghanistan mit Futter zu versorgen. Grenzübergänge für die lebensrettenden Lkw-Ladungen seien geschlossen, eine Verteilung im Land so gut wie unmöglich. Dass von der afghanischen Wirtschaftsleistung in Höhe von mickrigen 20 Milliarden Dollar die Hälfte aus ausländischer Unterstützung stammt, war auch kein Geheimnis, es steht im Bericht des Internationalen Währungsfonds. Dass beträchtliche Teile davon durch Korruption in Steueroasen landen, ebenswenig.
Zwei und zwei ist vier
Warum also soll eine afghanische Familie ein von der Nato gestütztes Regime unterstützen, das aus Unfähigkeit und Korruption Menschen verhungern lässt? Nicht oder schlecht bezahlte Soldaten der afghanischen Armee stammen aus diesen Familien.
In diese Lücke stießen die Taliban, mit überwältigendem Erfolg. Die Soldaten kämpften nicht, für wen? Regionalpolitiker übergaben somit den Taliban Städte und Kasernen. Wozu Blutvergießen, wenn Hunger im kommenden Winter droht?
All das haben die westlichen Nachrichtendienste, von denen es in Afghanistan ja wimmeln sollte, nicht erkannt? Sie haben die UN-Berichte, wonach Hunderttausende Kinder vom Hungerstod bedroht sind, nicht gelesen oder ignoriert?
In Washington, London, Paris und Pullach (dem Sitz des deutschen Nachrichtendienstes BND) mögen diese Zahlen abstrakt klingen, aber für Afghanen ist letztlich egal, ob sie unter einem korrupten Regime oder unter einer Terror-Gruppe verhungern. Und so setzte sich niemand für diesen nicht sorgenden Staat ein und die Taliban marschierten durch.
Nun sitzt Afghanistan auf immensen Bodenschätzen, etwa Lithium-Vorkommen. China hat darauf ein Auge geworfen und will Afghanistan in sein Seidenstraße-Projekt integrieren. Russland unterhält seit längerem Kontakt zu den Taliban, der russische Botschafter in Kabul ist besonders aktiv. Die Türkei hat bereits angekündigt, künftig für den Schutz des Kabuler Flughafens bereitzustehen. Der Iran steht ebenso bereit, auch um die Schiiten in Afghanistan besser zu schützen.
Die Europäische Union? Abgemeldet. Die USA? Gedemütigt.
Die Frage, ob 2021 Afghanistan das Jahr 1989 ins Gegenteil verkehrt wurde, darf gestellt werden. Im „Kampf der Systeme“ haben autokratische Regime, ja de-facto-Diktaturen, derzeit Oberwasser. Und das, obwohl diese Länder wirtschaftlich alles andere als gut dastehen.
Die Türkei kämpft mit einer zweistelligen Inflationsrate und einem selbstherrlichen Präsidenten, der Notenbank-Gouverneure rausschmeißt, weil sie die Zinsen nicht senken. Die Wirtschaftsleistung ist wegen des Absturzes der türkischen Lira seit 2013 stark gesunken, das Leistungsbilanzdefizit besorgniserregend.
Russland hat es in vielen Jahren nicht geschafft, aus den enormen Gas- und Öl-Einnahmen eine wettbewerbsfähige mittelständische Wirtschaft aufzubauen. Abseits der militärischen und nachrichtendienstlichen Muskelspiele Putins ist Russland eine Regionalmacht, die mit inneren Repressionen nicht nur gesellschaftliche, sondern auch unternehmerische Initiativen abwürgt.
China hat sich mit seinem neuen Langzeit-Präsidenten die Welt-Herrschaft zum Ziel gesetzt, kauft die Bodenschätze Asiens und Afrikas und baut mit dem „Seidenstraßen-Projekt“ eine neue globale Lieferkette auf, die unter der Kontrolle Pekings steht. Nachbarländer wie Nordkorea können mittlerweile getrost als Satellitenstaaten bezeichnet werden, die ohne Pekings Wohlwollen ins Trudeln geraten würden. In Hongkong wurde die freie Gesellschaft abgeschafft, Taiwan permanent bedroht.
Spionage ist in China oftmals Wirtschafts-Spionage. Der neue Mittelstrecken-Passagierjet des staatlichen Unternehmen Comac hat – so Flugzeugexperten – eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Airbus 320. Er wird nun Airbus und Boeing Konkurrenz machen. Daneben hat China erfolgreich eine starke Forschungs- und Industrie-Landschaft in ausgesuchten Bereichen (Mikrochips, Biotechnologie, Nanotechnologie, Batterien-Entwicklung, Hochgeschwindigkeitszüge, etc.) aufgebaut. Da könnten die Europäer mittlerweile von China lernen.
Nicht-demokratische Systeme bauen ihren Einfluss auf die Welt kontinuierlich aus, nun auch über Afghanistan. Das Land hat etwa 36 Millionen Einwohner, und das zeigt schon das Problem. Allein China, Russland, Iran und Türkei haben mehr als 1,7 Milliarden Bewohner, mit den Staaten in ihrer Nachbarschaft, die sie kontrollieren, sind zwei Milliarden Menschen keine übertriebene Schätzung.
Alle diese Staaten werden nun die Taliban in Afghanistan unterstützen und tun es bereits. China hat ein Auge auf die beträchtlichen Bodenschätze des Landes geworfen. Woran es hapert ist die Infrastruktur: Es gibt weder die technologischen Ressourcen für den Bergbau noch die Transportwege, um das gewonnene Material gewinnbringend zu verkaufen. China hat bereits angekündigt, Afghanistan in sein Seidenstraßen-Projekt aufnehmen zu wollen.
Russland hat ebenfalls enormes wirtschaftliches Interesse am geopolitisch wichtig gelegenen Land am Hindukusch: Gas-Pipelines in die bevölkerungsreichsten Länder China und Indien führen idealerweise durch Afghanistan.
Das bedeutet aber, dass das Land stabil geführt werden muss und nicht wieder im Bürgerkrieg versinkt. China fürchtet, dass die von ihr massiv unterdrückten muslimischen Uiguren, deren Gebiete an Afghanistan grenzen, von dort aus gewaltsamen Widerstand in China organisieren. Für Russland geht es – aus Stabilitätsgründen betrachtet – dabei um noch mehr. Im großen China wird die muslimische Bevölkerung auf 20 Millionen Einwohner geschätzt, im zehnmal kleineren Russland ebenfalls auf 20 Millionen. Vor allem im Nordkaukasus formieren sich immer wieder Widerstandsnester.
Follow the money
Eine Radikalisierung dieser Bevölkerung wollen China, mehr noch Russland, verhindern. Beide Länder sind auch aus diesen Gründen sehr interessiert, mit dem neuen Taliban-Regime in Kabul gut zusammen zu arbeiten. Und tun das bereits und taten dies Monaten – unter den Augen der NATO, die dort seit Jahren Schlimmeres verhinderte.
„Freerider“ wird das politisch genannt. Der demokratische Westen zahlte mit vierstelligen Milliardenbeträgen eine Entwicklung, von denen nun autokratische Systeme profitieren – und eine afghanische Bevölkerung in Hunger und Verzweiflung hinterließ.
Im Endeffekt werden Länder wie China und Russland ihre wirtschaftlichen Interessen durchboxen. Eine ums Überleben kämpfende, kriegsmüde Bevölkerung wird bei der Sicherung von Pipelines wenig Rolle spielen.
Westliche Trümpfe: Dollar, Euro
Und die Taliban haben ihre Lektion gelernt: Follow the money, anders sind die diplomatischen Aktivitäten der jetzigen Taliban-Führung nicht zu beschreiben. Sie hat bereits zugesichert, dass große Infrastruktur-Projekte ihrem besonderen, auch militärischen Schutz unterliegen. Politische Taliban-Führer, die im Golf-Staat Katar saßen (und sitzen) besuchten bereits die Führung in Moskau und Peking, um Garantien abzugeben.
Zentralasien 2021 könnte also für den Westen die Niederlage werden, die 1989 für den Ostblock bedeutete.
Noch hat der Westen eine starke Waffe im Köcher: Die Währungen. US-Dollar und der Euro sind die beiden mit Abstand wichtigsten Reservewährungen. Etwa 60 Prozent entfallen auf den Dollar, 21 Prozent auf den Euro.
Das bedeutet, dass die autokratischen Länder auf den Zugang zu diesen beiden Währungen angewiesen sind, weil viele Rechnungen darin ausgestellt werden. Die Banken in Afghanistan sind geschlossen, weil die Reserven – wie eingangs erwähnt – in den USA und der Schweiz quasi eingefroren sind. Nun muss aber Afghanistan seine Energierechnung (Öl, Gas, Strom) in Dollar bezahlen. Die dringend benötigten Nahrungsmittel ebenso, vielleicht noch ein bisschen in Euro. Die Landeswährung Afghani wird nirgends akzeptiert.
Aber auch hier spielt China eine Rolle. Seit Jahren versucht das Pekinger Regime, zu dem die dortige Zentralbank, die Peoples‘ Bank of China, den Yuan international zu positionieren. Mit Erfolg. China die wird in den kommenden Jahren den japanischen Yen und das britische Pfund „überholen“. Afghanistan könnte sich also – wenn die Dollar-Reserven eingefroren bleiben – dem „Yuan-Block“ anschließen, und China dafür die Ausbeutung der Bodenschätze überlassen.
Dann wäre der Westen seinen letzten Trumpf los, denn der Yuan gilt seit 2015 als offiziell anerkannte Reservewährung, vor allem beim Internationalen Währungsfonds.
2021 könnte der Westen also Zentralasien an China, Russland und die Türkei verlieren, eine Region mit 100 bis 130 Millionen Einwohnern, bedeutenden Bodenschätzen und von herausragender geopolitischer Bedeutung.
Das würde – und das ist wohl auch ein Kalkül der Amerikaner – bedingen, dass diese Länder die damit verbundenen politischen Risken übernehmen. Die zerstörerische Kraft des IS und anderer radikaler Gruppen würde sich gegen China und Russland richten, wenn beide Länder die Taliban unterstützen.
Doch das liegt im Reich der Vermutung, Faktum ist jetzt einmal, dass sich der Westen am Hindukusch nicht nur eine blutige Nase geholt hat, sondern der Welt auch eine gehörige Portion Unvermögen servierte. Die europäischen Regierungen erkennen, dass sie mit den Taliban einen modus vivendi finden müssen. Die jüngste Äußerung des – insgesamt eher inferioren – deutschen Außenminister Heiko Maaß ist an Naivität kaum zu überbieten: Die Taliban müssen nun Menschen- und Frauenrechte einhalten. Ja, eh.
Umzingelte Freiheit
Autokraten haben dagegen Oberwasser. Vom Schwarzen Meer bis in die Arktis und dem Südchinesischen Meer beherrschen sie die Szene und geben geopolitisch den Ton vor. Europa, das sich seiner wirtschaftlichen Kraft nicht bewusst und sicherheitspolitisch ein Torso ist, wird darunter besonders leiden. Schon jetzt propagieren Mitgliedsländer wie Ungarn das System einer „illiberalen Demokratie“. Jene Länder, die nun am Hindukusch das Sagen haben, überziehen Europa mit destabilisierenden Cyber-Methoden.
Die Freiheit, wie wir sie kennen, und die 1989 grenzenlos schien, bekommt Grenzen gesetzt. Und die westlichen Demokratien haben derzeit keine andere Antwort außer der Währungs-Keule. Wehrhaftigkeit schaut anders aus.