Die Zweite Republik, ein Abgesang.
von Reinhard Göweil
Das 21. Jahrhundert ist endgültig in Österreichs Politik angekommen, die Zweite Republik verabschiedet sich. Geopolitische Veränderungen, Klima-Kapriolen, der hemmungslose Raubbau an Land, Meeren und Rohstoffen hinterlässt verstörende und zerstörerische Spuren in einer Erde, die unsere einzige ist.
Digitalisierung verändert vollständig die Art und Weise, wie wir Handel treiben und im Wettbewerb Wohlstand schaffen. Sie verändert alle Systeme, auf denen das westliche Gefüge aufbaute. Sozialsysteme bzw. deren Finanzierung stehen auf der Kippe.
Digitale Medien, vor allem über die fälschlicherweise als „social media“ bezeichneten Plattformen und deren „Devices“ wie Smartphones, beeinflussen die öffentliche Medien in einer ungekannten Rasanz – oftmals ohne jeglichen Wahrheitsgehalt.
Künstliche Intelligenz, weitgehend unreguliert, gibt Maschinen die Macht, menschliche Werte und Talente zu dominieren. Mit dem Sieg der Maschine über den Menschen im Brettspiel Go begann es. Was passiert, wenn Maschinen im militärischen Bereich die Entscheidung übernehmen, will sich niemand ausmalen. Und ein unreguliertes „Internet of things“ macht uns zu Gästen im eigenen Haus.
Angesichts der Herausforderungen mutet es eigentümlich an, wie gelassen die Bevölkerung auf all dies reagiert. Vielleicht denken viele, dass der Homo Sapiens alles im Griff hat. Immerhin hat die Menschheit das 20. Jahrhundert überlebt. Keine geringe Leistung.
Das 21. Jahrhundert aber mit den Ideen des vorigen zu betrachten ist fatal, zu neu sind die erwähnten und unausweichlichen Veränderungen.
Schnitt. Zurück nach Österreich.
Es beschreibt ein Land, auf dem knapp neun Millionen der 7,7 Milliarden Menschen leben. 6,4 Millionen von ihnen gehen am 29. September wählen. Der Schock über das Ibiza-Video der Herren Strache und Gudenus sitzt tief. Es anzusehen ist wie ein sehr schlechter Tarantino-Film. All das, was seither passierte war allerdings auch ein schlechter Film. Regisseur van der Bellen machte aus diesem Drehbuch noch das Beste. Vollständig versagten allerdings jene Parteien, die nach 1945 die repräsentative Demokratie gestalteten. Am souveränsten stellten sich noch die NEOS und (derzeit außerparlamentarisch) die Grünen dar.
Bis zur Wahl werden uns noch ein paar Grauslichkeiten aus ÖVP, SPÖ und FPÖ begegnen, dafür werden die jeweiligen Parteimanager sorgen. Sie alle stammen aus dem System der Zweiten Republik, in der diverse Gruppen Steuer- und Spenden-Töpfe selbstverständlich für sich reklamiert haben. Niemand kann darauf stolz sein, aber ja, Herr Bundespräsident, auch so sind wir…
Noch wissen wir nicht, wie die Wahl ausgeht, es gibt bloß eine Richtung aufgrund der Umfragen. Aber eines ist sicher: Die Zweite Republik ist danach Geschichte.
Das finanzielle Dilemma
Aus organisatorischer und inhaltlicher Sicht steht Österreichs Demokratie vor einem fundamentalen Wandel. Zuerst organisatorisch. Die politischen Parteien bleiben das Gerüst, wenngleich sich ihre Gewichtungen verschieben. Doch sie stehen nach Ibiza-Gate vor einer Forderung nach Transparenz, die so breit getragen ist, dass sie dem entsprechen müssen. Das bedeutet nichts weniger als die Vertreibung aus dem Paradies. Denn die Wege der informellen Parteienfinanzierung haben sich im Lauf der Jahre bei ÖVP und SPÖ in Bundes- und Landesorganisationen extrem verfeinert und verästelt, bei der FPÖ ist sie – siehe Ibiza-Video – noch etwas grob geraten. Grüne und Neos kamen aufgrund ihrer geringen Bedeutung und späteren Gründung nicht einmal in diese Nähe, was sie unverdächtig macht.
Genau das können diese beiden Partei nun auf ihre Fahnen heften, denn das Ende der Zweiten Republik beschreibt ein Großteil der Bevölkerung, die dieser informellen Kanäle – eine Art „analoger deep state“ – überdrüssig geworden ist.
Es kann in Zukunft nicht mehr sein, dass eine Partei wie die SPÖ einen Berater, der seit Jahren für die SPÖ tätig ist und unter zwei Kanzlern im Kanzleramt angestellt war, monatlich pauschal mit 20.000 Euro entlohnt wird. Es ist der geradezu selbstverständliche Wechsel zwischen einer Partei und einem Job im Regierungsbüro, der schlechte Stimmung verbreitet. Ähnliches wird sich in der Volkspartei abspielen.
„Eine Koalition aus SPÖ und ÖVP wollen nur noch Funktionäre und deren Familien, die davon profitierten und profitieren.“
Genau diese Verwechslung zwischen Regierung und Regierungspartei war ein nicht geringer Teil jenes Unmuts, den die „Große Koalition“ genannte Konstellation aktuell bei vielen Menschen so unpopulär macht. Nur noch sieben Prozent sehen diese Regierungsform als positiv, Tendenz fallend. Das sind wenig mehr als die Funktionäre und ihre Familien, die vom „System“ profitierten und profitieren.
Die Re-Organisation jener politischen Parteien, die interne Kosten bisher via Minister- und Landesrats-Büros sowie Vereine und Agenturen auf die Allgemeinheit überwälzten, wird deren Struktur erheblich verändern. Die drohende negative Öffentlichkeit wird bisherige informelle Spender verschrecken und deren Geldtasche verschließen. Schon der anlaufende Wahlkampf wird uns zeigen, dass jene Parteien, die bisher wirtschafteten als ob es kein morgen gäbe, kleinere Brötchen backen.
Für ÖVP, SPÖ und FPÖ wird es also schwieriger zu sein zu Geld zu kommen. Mit der – eigentlich recht üppigen – offiziellen Parteienförderung kommen diese Organisationen nicht aus. Dazu gab es zu viele außerplanmäßige Wahlen in den vergangenen Jahren, und eine ausufernde Kosten-Struktur, die normale Unternehmen längst in den Konkurs getrieben hätte.
Wie diese Parteien damit fertig werden, ist noch unbekannt, aber es wird jedenfalls nicht mehr so funktionieren wie es in der Zweiten Republik bisher Usus gewesen ist. Für die SPÖ kommt erschwerend noch dazu, dass es keine wirkliche Erneuerung gegeben hat, was ihr nun auf den Kopf fällt. Change Management ist angesagt.
Das inhaltliche Dilemma
Die ÖVP hat sich jüngst das Null-Defizit als Leistung auf ihre Fahnen geheftet. Außer dem zeitlichen Zusammentreffen zwischen budgetärer Entspannung und ÖVP im Kanzleramt gibt es wenig Korrelation. Jeder Bundeskanzler hätte 2018 ein ausgeglichenes Budget zusammengebracht, dazu lief einfach die Wirtschaft in den drei Jahren davor viel zu gut. Die SPÖ war einfach nicht in der Lage, die Nationalratswahl 2017 zu gewinnen, sonst wäre Christian Kern der Held.
Darüber hinaus sind die Antworten der bisherigen Regierungsparteien ÖVP, SPÖ und FPÖ auf die inhaltlichen Herausforderungen der Zukunft eher bescheiden. Die ÖVP hat zwar Ansätze gezeigt, den Faktor Arbeit von Steuern und Abgaben endlich zu deutlicher entlasten, weil dies in einer digitalen Wirtschaft ohne Alternative ist. Die Modernisierung der Wirtschaft trieb auch sie nicht voran, die alten Subventionskanäle, allen voran die Landwirtschaft und Landes-Wirtschaftsförderungen, sind nicht angetastet worden. Das jüngste Uber-Taxi-Beispiel zeigt, dass gerade aus der ÖVP recht rüde Methoden kommen, um uns vor Wettbewerb zu schützen anstatt den Wettbewerb zu schützen.
Die SPÖ lebt im Slogan „soziale Gerechtigkeit“, definiert diesen Begriff aber rückwärtsgewandt und nicht in die Zukunft gedacht. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung hat mit jenen Systemen, die in der Zweiten Republik entwickelt wurden, wenig gemein. Das macht das herrschende Sozialsystem nicht schlecht, es war im Gegenteil vorbildhaft. Aber es hält nicht stand.
Vor allem Jugendliche wissen oder spüren das. Die Sozialdemokratie gibt darauf keine Antworten, dementsprechend schlecht sind ihre Werte bei unter 40jährigen.
Die FPÖ will keine Migration und lebt vom – nicht von Österreich ausgelösten – Chaos der Jahre 2015 und 2016, das es nicht mehr gibt. Auch dies ist das Gegenteil von Zukunft.
Neos und Grüne sind – mit der Gnade der späten Geburt – die einzigen, die darauf Antworten geben, auch in ihren internen Auswahlverfahren, wer Mandate erhält.
Die Analysen liegen auf dem Tisch. Die Digitalisierung erfordert ein neues Konzept in der Bildungs-, Forschungs- und Sozialpolitik. Die Alterung der Gesellschaft erfordert eine damit zusammenhängende Migrationspolitik, es geht hier um einen grenzüberschreitenden Wettbewerb um Talente. „Grenzen dicht“ sind Konzepte, die Österreich ärmer machen.
Die geopolitische Situation erfordert eine neue globale Kompetenz der EU, hinter der nationale Interessen zurückstehen.
Hätte Kreisky kurzfristig gedacht wäre Österreich heute Italien
Der Klimawandel bedeutet, dass wir in Europa neue Wirtschafts-Modelle zu entwickeln haben, der Umstieg auf Energieträger, die einer Kreislaufwirtschaft entsprechen.
Das alles ist einleuchtend und leicht gesagt, aber die reale Entsprechung bedeutet eine Revolution.
Es ist auch nur über Jahrzehnte umzusetzen, doch kein Politiker denkt so lange. Ein Beispiel: Was hätte Bruno Kreisky gemacht, wenn er 1971 nur kurzfristig gedacht hätte? Natürlich hat er nicht gewusst, ob er die nächste Wahl gewinnt. Aber er hat systemische Veränderungen gesetzlich umgesetzt, von denen wir gesellschaftlich bis heute zehren. Wirtschaftspolitiisch sogar, weil er Personen wie Hannes Androsch Entscheidungen überließ (ohne Überzeugung). Wäre es nach Kreisky gegangen, hätte Österreich den Weg Italiens eingeschlagen, und – solange es eine eigene Währung hatte – diese beständig abwertet. Für die aktuelle Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Wirtschaft wäre dies desaströs gewesen. Androsch nannte die Bindung an die D-Mark damals „Strukturpeitsche“ – und die war es auch zum Wohle der jetzigen Generation.
Eine inhaltliche Politik, die jene im Blickfeld hält, die sehr jung sind oder gerade geboren werden, ist bei den Parteien, die an der Wiege der Zweiten Republik standen, deerzeit nur rudimentär zu erkennen.
Grüne und Neos haben die Veränderungen des 21. Jahrhunderts erkannt, sie geben mittlerweile radikale Antworten – etwa zu den Themen Europa und Klimaschutz. Das tut die FPÖ nur bei der Migration – ÖVP eher verbal und die SPÖ so gut wie gar nicht.
Sozialpartnerschaft in der Dritten Republik?
Zukunft der Pensionen, Zukunft der Arbeitswelt und Zukunft der Bildung braucht zudem eine völlig neue Art der Sozialpartnerschaft in Österreich. Nicht deren Abschaffung, aber ihre vollständige und radikale Erneuerung, finanziell und organisatorisch. Dies wird vermutlich sogar das sichtbarste Zeichen eines Abgesangs der Zweiten Republik sein, zu deren mächtigster Konstante sie zählte. Wie deren „Change“ aussehen wird, steht in den Sternen. Deren Licht fällt auf 859 Kollektivverträge, deren Komplexität niemand mehr durchschaut und einer heraufdämmernder Dritten Republik, deren Ausgestaltung in eben jenen Sternen steht.